Karl Ulrich Voss, Burscheid: meine Leserbriefe im Jahre 1998

 

29.12.1998
Kölner Stadt-Anzeiger
Verfassungsreform; zur Entwicklung der Demokratie; in Anlehnung an Kommentar von Martin E. Süskind im KStA v. 24.12.1998 ("Menschenwerk in der Politik"):

In der Tat: Demokratie funktioniert nicht ohne genügend begeisterte Demokraten. Nun, da die ersten hundert Tage der Festfreude und der Eingewöhnung fast verstrichen sind, sollte die neue Regierung den begeisternden Gedanken an die Reform unserer Demokratie wagen.
Das 49er Grundgesetz wollte nicht mehr als ein Provisorium sein. Es hatte den Staat bewußt stabil und weitgehend "civibus absolutus", von den Bürgern losgelöst angelegt – im Interesse einer verläßlichen Westbindung und gegen einen damals befürchteten noch andauernden Nationalismus. Die Parteien haben sich in diesem Provisorium gut eingerichtet; sie haben das zeitbedingte Merkmal der repräsentativen Demokratie zu einem Qualitätskriterium erhoben, das den kontinuierlichen Austausch mit den Bürgern gerade nicht braucht.
Ich denke, die Bürger in Ost und West haben längst ihre politische Reifeprüfung abgelegt. Es ist Zeit für eine lebhafte Diskussion über die Möglichkeiten und Formen einer direkteren Demokratie, über die Einbindung der Bürger, z.B. durch Volksbegehren zur Bundesgesetzgebung oder die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes. Und die Parteien? Die Parteien sollten in einer neuen Bürger- und Partnerorientierung konkurrieren und wachsen. Die Begeisterung ist sicher und das Gefühl der Ohnmacht schwindet!

 

14.10.1998
DIE ZEIT
Verfassungsreform; Leitartikel von Jan Roß aus der Zeit v. 8. Oktober 1998 (Nr.42; "Stunde der Politik")

Ein gutes Projekt: die Wiederbelebung der Politik. Und es ist nur konsequent für eine Regierung, die in die Verantwortung gewählt worden ist. Aber das Projekt gehört nach unten ausgebaut durch eine beherzte Diskussion über die Reform der Demokratie. Sonst kann es kaum breite Begeisterung und nachhaltige Legitimation erzeugen.
Die 49er Verfassung hat unseren Staat bewußt stabil und weitgehend "civibus absolutus", von den Bürgern losgelöst angelegt – im Interesse einer unumkehrbaren Westbindung und gegen einen damals unkalkulierbaren Nationalismus. Die staatstragenden Parteien haben sich darin eingerichtet und haben das Merkmal der "Repräsentativität" zu einem unantastbaren Qualitätskriterium erhoben, das einen wechselseitigen inhaltlichen Austausch mit den Bürgern nicht braucht.
Unerheblich, ob die anfänglichen Bedenken gegen direktere Demokratieformen je berechtigt waren; inzwischen – und insbesondere mit dieser selbstbewußten Wahl – haben die Bürger in Ost und West ihre politische Reifeprüfung abgelegt. Es ist nun Zeit für einen vitalen öffentlichen Diskurs über Möglichkeiten und Formen einer stärker inhaltlichen und strukturellen Einbindung der Bürger, z.B. qua Volksbegehren und eine Direktwahl des Staatsoberhauptes. Und die Parteien? Die Parteien sollten in einer neuen Bürger- und Partnerorientierung konkurrieren und wachsen! Politik und Demokratie bedingen einander.

 

28.9.1998
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 2.10.1998
Wahlergebnis; Koalitionsaussagen der Union

CDU/CSU und FDP erteilen dem künftigen Kanzler unmittelbar nach der Wahl eine eindeutige Abfuhr. Dies nimmt Schröder eine glaubhafte Koalitionsalternative und stärkt im gleichen Zuge die Einflußnahme Fischers auf das Regierungsprogramm. Eine Deutung liegt nahe: der bisherigen Koalition käme ein nach ihrer Bewertung unrealistisches und zum Scheitern verurteiltes Programm nicht ungelegen - je schlimmer, desto besser. Menschlich mag das verständlich sein. Aber die brüske Abgrenzung verlängert den Lagerwahlkampf und die hochstilisierte politische Polarisierung in die Zukunft. Sie ist ein schlechtes Beispiel der Verantwortung für Deutschland.

 

18.9.1998
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 23.9.1998
Wahlkampf; Äußerung v. Fr. BM Nolte zur Mehrwertsteuererhöhung

Das eigentlich Bemerkenswerte ist nicht die Äußerung der jungen Ministerin zu Steuerplänen der Regierung; Offenheit wünscht man sich immer und von allen Seiten. Bemerkenswert ist vielmehr das reflexartig einsetzende Johlen, Bellen, Krächzen und Pfeifen des gesamten politischen Spektrums. Wie seinerzeit bei der 5-Liter-Episode der GRÜNEN führt es zur ruckartigen Rücknahme einer vielleicht nachdenkenswerten, aber vermittlungsbedürftigen Position und zur parteiübergreifenden Konditionierung: der Wahlbürger verträgt und verdient nur leichteste Kost, am besten keine mit Inhalt.
Neu ist das nicht. Entscheidende politische Weichenstellungen des letzten Jahrzehnts - der ökonomische Rahmen der Wiedervereinigung, der Verzicht auf eine Verfassungsreform, die grundlegende Erweiterung des Bundeswehrauftrages und die Asylrechtskorrektur - haben nie auf einer Wahlkampfagenda der bedeutenden Parteien oder zur anderweitigen Abstimmung mit den Bürgern gestanden.
Das erodiert das Fundament der Demokratie. Unsere Staatsform wird immer weniger als Werkzeug der inhaltlichen Beteiligung an der Macht und immer mehr als gefällige Erklärung der Herrschaft verstanden.

 

21.8.1998
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 28.8.1998
Militärpolitik;
Luftschläge der USA in Afghanistan und im Sudan; Stadt-Anzeiger v. 21.8.1998

Die militärischen Interventionen der USA in Afghanistan und im Sudan erzählen von der kurzatmigen Außenpolitik einer waffenhandelnden Großmacht:
Vor Jahrzehnten haben die USA den noch alliierten Iran - Anrainer des damaligen kommunistischen Hauptfeindes - militärisch aufgepäppelt. Kurze Zeit später kamen Nachbarländer des mittlererweile islamistischen Iran in den Genuß üppiger Waffenlieferungen, Irak und dann auch Afghanistan, letzteres vor allem, um den sowjetischen Einfluß zurückzudrängen. Wieder einen Schritt später werden Nachbarn des inzwischen frech gewordenen alten Freundes Saddam ertüchtigt und schickt man Saddam und nun auch den ehemaligen Geschäftspartnern in Afghanistan cruise missiles in den Pelz.
Macht das alles großen Sinn? Eher scheint es, daß wir uns unsere Feinde und Konflikte selbst schaffen - insbesondere das moderne Feindbild Islam, das seit dem Ende des Kommunismus begeistert herbeigeredet wird und das gleichzeitig das Feindbild ,,Westen" nährt. Daß sich der Islam im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeihung entwickelt, ist nicht verwunderlich. Ich denke, dem amerikanischen Präsidenten ist auch kaum bewußt, welche Eskalation er riskiert: Was er mit cruise missiles anrichtet, können in unseren offenen Gesellschaften viele mit dem billigeren tödlichen Inhalt eines alten Koffers leicht wiederholen. Die Zutaten bekommen sie bei uns und wie man's macht, haben sie längst gelernt.

 

10.8.1998
Frankfurter Allgemeine
Wehrpolitik;
Berufsarmee

Fischer verspricht die Abschaffung der Wehrpflicht und lockt seine Klientel. Aus meiner Sicht ist das nicht konsequent und - nach allerdings verbreitetem Vorbild - nicht sonderlich demokratisch:

Bündnis9O/DlE GRÜNEN unterstützen mit stetig wachsender Tendenz humanitär begründete Missionen der Bundeswehr, innerhalb der Fraktion bereits sehr konstant. Bei Licht betrachtet ist dies nicht einmal neu. In einem politischen Teilspektrum, das auch in die GRÜNEN eingegangen ist, sind seit Jahrzehnten militärische Handlungsformen akzeptiert, wenn sie denn nur den richtigen Zielen dienen (z.B. Befreiungskriege, ein bellum justum dieser Seite).
Genau das ist der Punkt: nur dasjenige Handeln erscheint mir demokratisch vertretbar, das eine Gruppe mit einem repräsentativen, möglichst nach generellen Regeln ausgewählten Teil der eigenen Gemeinschaft auch persönlich umzusetzen bereit ist. Das gilt für den Staat insgesamt wie für jede Partei. Betroffenheit ist das einzig wirksame Korrektiv menschlichen Handelns. Völlig unerträglich wäre dagegen folgende Vorstellung: In politischen Hinterzimmern wird ein militärischer Einsatz für gut befunden, von dem man dort weiß, daß ihn eine professionelle Truppe schon folgsam exekutieren wird, genauer: daß für den guten Zweck gesichtslose Menschen ins Feuer geschickt werden. Also: grüne Missionen setzen die Wehrpflicht und - auch - viele grüne Soldaten voraus.

 

26.5.1998
FOCUS
VIAGRA in FOCUS 21/1998

Wir sollten VIAGRA als Gelegenheit für einen politischen Generationswechsel begreifen: wenn sich die erfahrenen Polit-Heroen auf ihre wahre Kraft besinnen, haben Jüngere eine Chance – zumindest zeitweise.

 

15.05.1998
Kölner Stadt-Anzeiger
Umwelt; Wahlkampf;
Stadt-Anzeiger v. 15.05.1998 zur geänderten Wahlplattform der Bündnis-Grünen

Schade, daß sich die Bündnis-Grünen die 5 DM haben austreiben lassen! Das war ein Kontrapunkt, der im Wahlkampf Diskussion und sogar Bewegung gebracht hat. Sowas ist mir tausendmal lieber als thematisch sachtes Klopfen auf den Geigenboden, lieber als allseits eingeebnete und glattgerührte Politik. Und vor allem lieber als ein Generalvertreter, der zu Wahlzeiten - vielleicht auch sonst - am liebsten Frei-Benzin ausschenken würde.

 

15.05.1998
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 20.5.1998
Militärpolitik; indische Atomversuche; Leitartikel in der FAZ v. 14.05.1998 (W.A. "Unwillkommen im Klub")

Mit atomarer Macht ist es wie mit dem Alkohol: Prohibition schürt das Verlangen und schafft zudem einen wunderschönen grauen Markt. Zur Qual wird der große Durst, wenn Nachbarn und Nachrangige ganz ungeniert aus der Quelle der Erkenntnis saufen. Kein Wunder, daß auch ein deutscher Kanzler einmal intensiv über die atomare Bewaffnung nachgedacht hat.

Das Intelligenteste wäre die vollständige Beseitigung dieser Waffenart, und - da das Intelligenteste auf diesem Planeten offenbar gleichzeitig das Unrealistischste ist - die nächstbeste Lösung vermutlich die allseitige Verbreitung.

 

07.05.1998
DER SPIEGEL; abgedruckt: SPIEGEL 21/1998
Deutsche Einheit;
Wahlausgang in Sachsen-Anhalt (SPIEGEL 19/1998)

Wär’ ich Ossie, ich würde auch dampfenden Frust schieben. 1990 hätte ich begonnen, vom siegreichen Westen zu lernen. 1997 hätte ich dann - Herz wieder in die Hose - aus dem Adlon vernommen, selbst die Kapitalismus-gestählten, kaum erreichbaren Wessie-Vorbilder wären noch nicht fit für die Zukunft und müßten mächtig dazulegen. Für verdattertes Umblicken und verschärftes In-die-Hände-Spucken war es da aber auch schon zu spät: Himmel, Erde und Zukunft der Neuen Länder waren längst fest in anderen Händen. In Händen zumeist, für die ein wirtschaftlich, kulturell und politisch emanzipierter und kompetitiver Osten nun wirklich null Priorität hat.

 

6.5.1998
Rheinischer Merkur; abgedruckt:15.5.1998
Deutsche Einheit;
Artikel von MdB Manfred Kolbe im Zusammenhang mit der Wahl in Sachsen-Anhalt (Rhein. Merkur Nr. 18 v. 1.5.1998, S. 3; "Tiefe Enttäuschung")

Ist die innere Einheit ein nur noch fehlender Schritt nach der (äußeren, staatsrechtlichen) Wiedervereinigung? Ich halte das für eine Selbsttäuschung. In der historisch sehr kurzen Phase von wenigen Monaten um den Beitritt herum waren Rahmenbedingungen definiert und Fakten geschaffen worden, die der inneren Einheit nun ebenso nachhaltig wie rechtsstaatsfest im Wege stehen: die von Manfred Kolbe zitierte Treuhandpolitik ist ja nur ein Detail der sehr ungleichen und nicht lokal orientierten Zuteilung der langfristigen ökonomischen Chancen in den Neuen Bundesländern.
Darüberhinaus sehe ich einen kausalen Zusammenhang zwischen der seinerzeit begründeten wirtschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt politischen Dependenz des Ostens vom Westen und einem dauerhaften Alimentationsbedarf des Ostens - und dem darauf wachsenden regionalen Frust. Fragen kann man immerhin, ob diese Situation mit Mitteln der Regierung zu verhindern gewesen wäre. Auch wenn das sehr skeptisch klingt: eine solidarischere Form der Wiedervereinigung lag möglicherweise von Anfang an nicht in der Gestaltungsmacht der Politik.

 

05.05.1998
DIE ZEIT; abgedruckt: 20.5.1998
Deutsche Einheit;
Berichterstattung und Kommentierung bzgl. der Wahl in Sachsen-Anhalt

Wer die Bürger nur am Wahltag fragt, überfragt sie. In Sachsen-Anhalt fühlten sich die Wähler derart wenig wahrgenommen und so überfragt, daß sie sogar den Protest aus dem Westen importiert haben.
Paradox? Nur auf den ersten Blick; denn das Votum kennzeichnet ein westlich verantwortetes Versäumnis. Im Osten brachte die Einheit hinsichtlich der Fähigkeit, dortige Geschicke selbst zu gestalten, nichts Neues: der Osten ist von einer zentralisierten Lenkung in eine waagerechte Abhängigkeit geraten - wirtschaftlich, kulturell und politisch vom Westen gelenkt. Eine selbständige, lokal orientierte neue Elite ist nicht gefördert worden. Und die einzige Gruppierung, die mit einem verblüffend stabilen Wählerpotential besondere östliche Interessenlagen verklammert, wird aus dem Westen bequemerweise als hinterlistiger politischer Zombie ausgegrenzt. Wenn man sich einmal die Mühe macht, die parlamentarischen Aktivitäten der PDS nüchtern zu bewerten und am Standard ihrer Kollegen zu messen, kommt man nicht umhin, ihr eine engagierte und inhaltlich wie handwerklich akzeptable Mitarbeit zu bescheinigen. Wer aber die PDS und ihre Wähler in die Extremistenschublade direkt neben der DVU hineindrückt, betreibt - pardon - grobschlächtige Propaganda und erweist der Einheit einen Bärendienst.

 

und, viele Leserbriefe vorher:

 

29.09.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v. 29.09.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der Count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

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