Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2020

Stand: Januar 2021

 

(2020/32) 29.12.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2021
Kampfdrohnen; Interview von Andreas
Niesmann mit Rolf Mützenich über eine gesellschaftliche Debatte zu Kampfdrohnen (Kölner Stadt-Anzeiger v. 28.12.2020, S. 8)

Es gibt einen sehr praktischen Aspekt beim Einsatz von Kampfdrohnen. Man könnte es nennen: den „Stinkefinger-Effekt“. Diese Drohnen sind die Botschaft an alle Aufständischen dieser Welt: „Seht her – wir tun das, weil wir's können. Ohne Risiko für uns!“

Was macht dann ein aufgebrachter Aufständischer, früher oder später? Er sprengt Weihnachtsmärkte mit Wählern in die Luft. Weil er ja die Hersteller, Generäle, Soldaten und Abgeordneten nicht unmittelbar erreichen kann. So wenig wie Churchill einen Hitler und dessen V2 erreichen konnte. Und dann bin ich wieder bei Herrn Mützenich: Wir sollten sehr intensiv darüber sprechen: Ob wir das wirklich wollen.

 

(2020/31) 25.11.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Artikel von Jan Sting „Kurzes Leben der Glasbäume“ (Ausgabe Rhein-Wupper v. 21./22.11.2020, S. 32)

Unser Stadtbild gewinnt, wenn alle Makrolon-Schirme gefallen sind. Den angepeilten mediterranen Flair und Charme haben sie nie versprüht. Sie taugten nicht gegen Regen, nicht gegen Sonne und haben den Blick auf eine der schönsten Burscheider Häuserzeilen verstellt.

Ein kurzes Leben, in der Tat. Vielleicht aber können wir Teile davon recyclen, etwa an der Rampen-Kanzel. Mit einer kleinen Denkmalplakette, als stumme Mahnung für die nächsten 100 Jahre.

 

(2020/30) 13.11.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT:
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/11/20/12-november-2020-ausgabe-47/
zum Interview von Jörg Lau mit Ursula von der Leyen „Das werden wir uns nicht mehr nehmen lassen“ (DIE ZEIT Ausgabe No. 47 v. 12.11.2020, S. 2)

„Nicht mehr nehmen lassen!“ – das fühlt sich ja an wie ein Akt der Emanzipation, wie das eigentliche Ende der Nachkriegszeit. Erst Russland und nun die USA, eigentlich ja auch England: Alle ein Stück weiter weggerückt.

Frankreich, dazumal der unwahrscheinlichste Partner, Frankreich bleibt nahe. Zu hoffen ist nur: Ursula von der Leyen behält Recht mit dem Vorrang von Investition vor Intervention. Wir machen also nicht einfach weiter mit lange enttäuschten Instrumenten wie ISAF und Consorten. Sondern wir werten die war theaters der letzten Jahrzehnte gemeinsam nach Kosten, Nutzen und Schäden aus. Will sagen: Wir sind bereit, neu und diesmal ziviler zu gestalten.

 

(2020/29) 5.11.2020
Süddeutsche Zeitung
US-Wahl, Kommentar von Daniel Brössler „Zeit, endlich aufzuwachen“, Süddeutsche v. 5.11.2020, S. 4)

Richtig: Ganz unabhängig vom Ausgang des amerikanischen Dramas, sogar gerade wegen dieser desaströsen Vorstellung ist ernstes Nachdenken notwendig. Wie will Deutschland denn nun sein spezifisches Geschäftsmodell weiterführen? 

Es ähnelt gerade dem Auszug aus dem Elternhaus, der emancipatio: Die Eltern verlieren Interesse am Erziehen des Nachwuchses, besinnen sich zunehmend auf sich selbst und die Kinder sehen Chancen und Risiken des Lebens auf eigenen Beinen. Sie werden ihre Ressourcen prüfen, etwa auch untersuchen, ob sich die Sicherungssysteme der Älteren bewährt haben und was die Kosten sind.

Genau das ist lange überfällig – etwa auch die Komponenten unserer militärischen Sicherheit nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre auf Nutzen und Lasten zu prüfen. Und nicht etwa blindlings die zu einem maßgeblichen Teil gescheiterten amerikanischen Ansätze zu kopieren und zu wiederholen. Insofern eröffnet klug genutzte Verantwortung auch neue Wege.

 

(2020/28) 5.11.2020
Frankfurter Allgemeine
zur US-Wahl, Leitartikel von Berthold Kohler „Trump bleibt sich treu“, Frankfurter Allgemeine v. 5.11.2020, S. 1)

Man mag inzwischen mit dem Gedanken leben können, dass China besser aus einer Pandemie herausfindet als westliche Länder. Aber dass der Spitzenmann einer leitenden Demokratie alle Register zieht, um gegnerische Wahlstimmen zu neutralisieren, das kündigt in der Tat schwere Zeiten für unsere politische Lebensform an. Wenn Trump sich treu bleibt und dennoch mehr Stimmen als je zuvor erntet, dann lässt das die Freunde frösteln und die Feinde auf die Schenkel klopfen.

 

(2020/27) 5.11.2020
US-Wahl, Leitartikel von Eva Quadbeck „Amerika in Aufruhr“ (Ausgabe v. 5.11.2020, S. 4) der nachfolgende Leserbrief:

Das Wahl-Drama rührt leider nicht nur die USA auf. Wenn sich die Vereinigten Staaten mit einigem Recht als die Welt-führende Nation nach 1945 verstanden hatten, als rational handelnd, als offen und integrierend, als in jeder Hinsicht prosperierend, dann ist das heutige Schmierentheater ein Trauma für mindestens die Hälfte der Staaten dieser Welt.

 

(2020/26) 16.10.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Ausrüstung der Bundeswehr; Daniela Vates „Brauchen wir Kampfdrohnen?“ (Ausgabe v. 16.10.2020, S. 2)

Man kann es den Verteidigungspolitikern ja nachfühlen: Wenn sie Soldaten in typischerweise ungewisse und unklar langwierige Kampfeinsätze schicken, dann sollten diese dafür so gut gewappnet sein wie irgend möglich und vor Verletzung so gut es geht gefeit. Und zusätzlich könnte die neue Technik auch noch zielgenauer treffen – die Drohne wäre das oft beschworene ultimativ trennscharfe Skalpell, dann auch ein wirksamer Schutz der Zivilbevölkerung. Alles gut?

Bei weitem nicht. Zum einen: Zur Zeit des verheerenden Luftschlags bei Kundus am 4.9.2009 war moderne Drohnentechnologie längst verfügbar, wurde aber wohl in der Hitze des Gefechts gar nicht erst eingesetzt. Zum Zweiten: In der derzeitigen Debatte fehlt völlig der Versuch, sich in die Perspektive der anderen Seite hineinzudenken: Speziell die ohnmächtige Wut gegen eine seelenlos tötende Technologie wird als wirksame Reaktion den terroristischen Gegenschlag gegen Bürger*innen des eingreifenden Staates nahe legen, die Attacke auf den weichen Bauch des Gegners. Das ist auch nichts wirklich Neues. In seinem 1795 erstmals erschienen Traktat „Zum ewigen Frieden“ warnte Kant im sechsten Präliminar-Artikel vor „ehrlosen Stratagemen“, die „das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Als Beispiele nannte Kant u.a. den Meuchelmord und die Giftmischerei. Über heutige Weiterentwicklungen wie das sogenannte „Targeting“ oder "Decapitating" mit „Unmanned Aircraft Systems“ bzw. Kampfdrohnen hätte er kaum anders geurteilt.

Quelle:
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Reclam-Ausgabe der 2. Aufl. 1796, S. 7

 

(2020/25) 2.10.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Wiedervereinigung; Interview mit der Bundeskanzlerin zur deutschen Einheit (Kölner Stadt-Anzeiger v. 2.10.2020, S. 2 u. 3)

Links des Rheins wird man besonders gut nachfühlen, wie lange es zu einem Einheitsgefühl brauchen kann: Dort hat man nach 1815 jahrzehntelang den Preußen misstraut und den Franzosen im Westen nachgetrauert, hat Kinder „Jean“ statt „Johann“ genannt, hat auch Freiheitsrechte und ein modernes Rechtssystem in die neue Zeit hinüber gerettet. Im größeren Maßstab haben die Kölner damit das geschafft, was die Kanzlerin heute bei den Ost-West-vermittelten Frauenrechten anmerkt. Als weitere und nun sehr negative Parallele der damaligen wie der heutigen Wende verzeichnen wir einen stramm gewachsenen Nationalismus.

Eines allerdings unterscheidet sich grundlegend – und das wird unser heutiges Einheitsgefühl noch viel stärker verzögern: In den vorher französisch administrierten Gebieten waren die Eliten kontinuierlich intakt geblieben und letztlich auch die Wirtschaftskraft; sie war sogar in mancher Hinsicht dem militärisch siegreichen Osten überlegen. Aus Köln ist der Stoßseufzer des Bankiers Abraham Schaafhausen überliefert: „Jesses, Marja, Josef! Do hirohde mer in en ärm Famillich!“ Dagegen waren die Folgen des Beitritts im Jahre 1990 doch eher Landnahme und Kolonisation; das hält noch mal länger getrennt, gerade in den Köpfen.

Quelle zum Schaafhausen-Zitat im zweiten Absatz:
Vera Kastner u. Dieter Torunsky, Kleine rheinische Geschichte, 1987, S. 12, siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Schaaffhausen

 

(2020/24) 18.9.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Kreuzfahrtschiffe für das abgebrannte Flüchtlingslager Moria; Leitartikel „Kein Schiff wird kommen“ von Matthias Koch (Ausgabe v. 18.9.2020, S. 4)

Da hat der Merz wohl doch mehr Herz, als die meisten dachten. Oder er hatte sein Herz hier jedenfalls auf dem richtigen Fleck. Selbst wenn am Ende kein Schiff kommen wird, dann sind es doch die genial irritierenden Denkansätze wert, die diese Idee freisetzt: Richtig: Bisherige Hungerleider beim Captain’s Dinner! Aber auch: Es waren gerade die ersten Kreuzfahrer, die Europas Höhenflug eingeleitet haben. Und: Auftrieb haben Schiffe nur durch das sie umgebende, von ihnen verdrängte Medium; wir werden reicher, weil andere ärmer bleiben. Oder: Diese Schiffe sind gestopft voll mit Dingen, die man früher Kolonialwaren nannte. Nicht zuletzt: Ohne die fern der Industrieländer geschürften Metalle – speziell Kupfer – kämen die Schiffe zwischen ihren ungezählten Stippvisiten keinen Zentimeter vorwärts, kein Ofen würde warm, kein Kühlschrank bliebe kalt, kein Wasser sprühte aus der Dusche, kein einziges Licht würde leuchten und aus den tausend Lautsprechern käme kein noch so zarter Ton.

Hier hätte man ein wenig zurückgeben können. Aber vielleicht findet sich ja noch ein edler Spender, etwa der Albrecht-, Quandt- oder Plattner-Klasse.

 

(2020/23) 3.9.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
FDP; Bericht von Carsten Fiedler und Gerhard Voogt „Lindner will Impfstoff-Gesetz“ und zum Interview von Sarah Brasack, Carsten Fiedler, Joachim Frank, Gerhard Voogt und Wolfgang Wagner mit Christian Lindner „Der Gedanke der Freiheit ist in der Defensive“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 2.9.2020,S. 1 u. 7)

Lindner drängt es nicht nach vorne. Es ist die Mediendemokratie. Hier sieht man es wieder plastisch, auf zwei prominenten Seiten des Stadt-Anzeigers. Mit fünf ausgewachsenen Redakteuren hat man ihn aufs Podest gezerrt und - halb zog man ihn, halb sank er hin - unter dem traditionsreichen Kölner Logo gleich mehrfach in Bild und Wort gesetzt.

„Freiheit“, lieber Herr Lindner, leidet heute an selbstverliebten, hedonistischen Auslegungen und an unreflektierten globalen Krisen in der Folge. Und die Freiheiten der Bürger stehen leider lange nicht mehr wahrnehmbar vorn auf der Agenda der Freien Demokraten; vielleicht haben Wähler genau das instinktsicher bemerkt.

 

(2020/22) 20.8.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.8.2020
FDP; Interview mit der stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Katja Suding „Regierung hält totgerittene Branche am Leben“ (Ausgabe v. 19.8.2020, S. 7)

Was bitte ist denn der Unterschied zwischen Großflugzeugen und Großveranstaltungen? Gerade bei Letzteren will es Herrn Lindners Vertreterin ja nun lockerer angehen lassen. Und wenn Herr Lindner „seinen“ Generalsekretär vorschlagen kann, darf er den daraufhin Gewählten dann auch jederzeit nach Lust und Laune wieder weghauen? Respekt vor innerparteilicher Demokratie sähe anders aus. Könnte man die derzeitige Randständigkeit der Freien ggf. an der flutschig-feschen Art ihres Vorsitzenden festmachen? Vielleicht ist ganz vorne etwas lange totgeritten.

 

(2020/21) 9.8.2020
DIE ZEIT
Hiroshima und Nagasaki; Bericht von Catarina Lobenstein ('Fat Mans' giftiges Erbe; DIE ZEIT No. 33 v. 6.8.2020, S. 15)

Diese „vorsätzliche Blindheit“, die hätte Donald Trump auch direkt vom Manhattan-Projekt lernen können. Trumps Vorgänger Harry S. Truman etwa schreibt am 15.7.1945 in sein Tagebuch – es ist exakt das Datum des militärischen Einsatzbefehls gegen Hiroshima, Kokura, Nijata und Nagasaki: „Ich habe Kriegsminister Stimson gesagt, die Waffe so einzusetzen, dass militärische Objekte und Soldaten und Seemänner das Ziel sind und nicht Frauen und Kinder. … Da sind wir einig. Das Ziel wird ein rein militärisches Ziel sein.“ Übrigens wird der Präsident nach Hiroshima und vor Nagasaki nicht etwa erneut eingeschaltet; er will es offenbar auch gar nicht.

Und bei einer Anhörung im September 1945 vor einem Senats-Komitee zur Atomenergie wird der militärische Kopf des Manhattan-Projekts, General Leslie R. Groves, zu den Folgen radioaktiver Verstrahlung ebenso treuherzig wie abwiegelnd versichern: Abhängig von der Dosis müsse man drei Gruppen unterscheiden: Die einen würden sofort sterben; bei geringerer Bestrahlung würde man ziemlich schnell sterben, aber nach Einschätzung der Mediziner ohne unnötige Schmerzen; wörtlich hier: „Tatsächlich sagen sie, es wäre ein sehr angenehmer Tod.“ Bei den verbleibenden leichten Verletzungen könne es zwar einige Zeit bis zur Heilung brauchen, aber am Ende könnten die Betroffenen auch geheilt werden.

Tatsächlich aber gibt es zur damaligen Zeit bereits konkrete Warnungen zu den Folgen ionisierender Strahlung, etwa wegen der bedauernswerten „Radium Girls“ oder „Dial Girls“, die Armaturen mit nachtleuchtender radioaktiver Farbe bemalt hatten, oder wegen sehr kritischer Verläufe bei einigen Roentgen-Pionieren. Die Arbeitsabläufe des Manhattan-Projekts sind denn bereits am Stand der medizinischen Forschung orientiert und nach den bekannten Fallzahlen auch vergleichsweise sicher. Bei der Zielplanung schließlich sorgt man sich konkret - und ausschließlich - um die radioaktiven Risiken der Bombercrews und späterer Besatzungstruppen. Über den Wissensstand der politischen Ebene mag man streiten. Aber sicher ist: Hätte sie es interessiert, sie hätten es wissen können und sie hätten es wissen müssen. In einem unterscheidet sich Groves allerdings von Trump. Groves bekam nachträglich einen Heidenschrecken. Nun nicht wegen der japanischen Opfer, sondern wegen des nun nicht mehr korrigierbaren Ansehensschadens für die USA. Selbst von dieser limitierten Einsicht ist Trump noch weit entfernt.

Quellen:

Einsatzbefehl v. 25. Juli 1945
https://www.osti.gov/opennet/manhattan-project-history/Resources/order_drop.htm

Tagebucheintrag von Harry S. Truman am Tag der Ausfertigung des Einsatzbefehls, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Atomic_bombings_of_Hiroshima_and_Nagasaki bei Fn. 100

This weapon is to be used against Japan between now and August 10th. I have told the Sec. of War, Mr. Stimson, to use it so that military objectives and soldiers and sailors are the target and not women and children. Even if the Japs are savages, ruthless, merciless and fanatic, we as the leader of the world for the common welfare cannot drop that terrible bomb on the old capital [Kyoto] or the new [Tokyo]. He and I are in accord. The target will be a purely military one.

Groves’ Aussage vor dem Special Senate Committee on Atomic Energy, November 1945, siehe Protokollauszug unter http://blog.nuclearsecrecy.com/wp-content/uploads/2012/10/1945-Groves-testimony-radiation.jpg:

“Senator Milliken:
General, is there any medical antidote to excessive radiation?

General Groves:
I am not a doctor, but I will answer it anyway. The radioactive casualty can be of several classes. He can have enough so that he will be killed instantly. He can have a smaller amount which will cause him to die rather soon, and as I understand from the doctors, without undue suffering. In fact, they say it is a very pleasant way to die. Then, we get down below that to the man who is injured slightly, and he may take some time to be healed, but he can be healed.

Sean Malloy “A Very Pleasant Way to Die”: Radiation Effects and the Decision to Use the Atomic Bomb against Japan, Juni 2012
https://www.researchgate.net/publication/262859282_A_Very_Pleasant_Way_to_Die_Radiation_Effects_and_the_Decision_to_Use_the_Atomic_Bomb_against_Japan

 

(2020/20) 8.8.2020
Süddeutsche Zeitung
Hiroshima und Nagasaki; Kommentar von Hubertus Wetzel, „Der Schrecken bleibt“ (Süddeutsche v. 7.8.2020, S. 8)

Der Schrecken bleibt aus den vielen Gründen, die gegen Hiroshima und Nagasaki gewirkt haben: Die Geostrategen wollten den Krieg mit einem an Russland adressierten präventiven Paukenschlag beenden. Die Regierung wollte dem Parlament einen Verwendungsnachweis für knapp 2 Milliarden Dollar liefern. Die Uran- und die Plutonium-Fraktion des Manhattan Projekts brauchten einen fairen Wettbewerb; oder auch: jede wollten ihren Praxistest unter realen Einsatzbedingungen. Die Rüstungswirtschaft wollte einen konjunkturunabhängigen Markt. Eisenhower – selbst erfahrener Militär und erklärter Gegner des Atombombeneinsatzes – hat die Problematik in seiner späteren Abschiedsrede als Präsident mahnend angesprochen.

Eine kleine Hoffnung besteht: 1944/45 wirkte in den USA auch noch eine massiv antijapanische Stimmung der Öffentlichkeit mit – signifikante 13% der Bevölkerung wollten die Japaner insgesamt ausgelöscht sehen. Die Japaner werden zur gleichen Zeit kaum besser über die Amerikaner gedacht haben. Solange solche Feindbilder verhindert werden können, werden die zuvor genannten partikulären Motivlagen schwerer durchsetzbar bleiben.

Quelle zum zweiten Absatz
https://en.wikipedia.org/wiki/Anti-Japanese_sentiment

Auszug:
A 1944 
opinion poll found that 13% of the U.S. public were in favor of the genocide of all Japanese.[18][19] Daniel Goldhagen wrote in his book "So it is no surprise that Americans perpetrated and supported mass slaughters - Tokyo's firebombing and then nuclear incinerations - in the name of saving American lives, and of giving the Japanese what they richly deserved."[20]

 

(2020/19) 6.8.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Hiroshima und Nagasaki; Bericht von Harald Biskup „Die Apokalypse von Hiroshima“ (Ausgabe v. 5.8.2020, S. 2)

Wenn der nukleare Angriff auf Hiroshima grausam war, dann ist Nagasaki umso fragwürdiger. Denn dieser Abwurf läuft nun völlig mechanisch ohne neue Willensbildung des Präsidenten ab, schlicht auf der Basis des nämlichen Befehls vom 25. Juli 1945. Den hatte General Leslie R. Groves, der militärische Kopf des Manhattan-Projekts, selbst entworfen und er ließ für vier zunächst priorisierte Ziele weitestgehend freie Hand: Hiroshima, Kokura, Nijata und eben Nagasaki. Nagasaki war erst in allerletzter Minute in die Zielliste nachgerückt; denn Kriegsminister Stimson hatte fürsorglich Einspruch eingelegt gegen die Wahl der traditionsreichen Kaiserstadt Kyoto, die Groves wegen des demoralisierenden Potenzials bevorzugt hatte. In Kyoto aber hat Stimson vor Jahren beglückende Flitterwochen erlebt.

Das bei der zweiten Mission zunächst angeflogene Kokura bleibt wegen schlechter Sicht verschont und das einzige Ziel vor einem erfolglosen Rückflug bzw. vor dem Abwerfen der kostbaren Fracht über See bleibt Nagasaki. Die Industrie- und Hafenstadt wird dann der Feldtest und Praxisvergleich für die konkurrierende zweite Entwicklungslinie des Manhattan-Projekts, für die Plutonium-Bombe. Diese hatte man zwar schon testweise in der leeren Wüste von Alamogordo, aber eben noch nicht gegen eine unzerstörte Stadt eingesetzt. Wieder trifft es viele zehntausend Zivilisten, die sofort oder in einem jahrzehntelangen Martyrium sterben, praktisch keine Militärs. In einer Anhörung des Special Senate Committee on Atomic Energy im gleichen November wird General Groves zu den Folgen nuklearer Verstrahlung treuherzig bemerken „In fact, they say it is a very pleasant way to die.“ Präsident Truman hat am Tage des genannten Abwurfbefehls in seinem Tagebuch notiert, vorsorglich vielleicht für eine spätere Geschichtsschreibung: „I have told the Sec. of War, Mr. Stimson, to use it so that military objectives and soldiers and sailors are the target and not women and children. … The target will be a purely military one.“ Da hatte er seine Rechnung offenbar ohne das Militär gemacht.

Quellen:

Einsatzbefehl v. 25. Juli 1945
https://www.osti.gov/opennet/manhattan-project-history/Resources/order_drop.htm

Groves’ Aussage vor dem Special Senate Committee on Atomic Energy, November 1945, siehe Protokollauszug unter http://blog.nuclearsecrecy.com/wp-content/uploads/2012/10/1945-Groves-testimony-radiation.jpg:

“Senator MillikenGeneral, is there any medical antidote to excessive radiation?

General Groves. I am not a doctor, but I will answer it anyway. The radioactive casualty can be of several classes. He can have enough so that he will be killed instantly. He can have a smaller amount which will cause him to die rather soon, and as I understand from the doctors, without undue suffering. In fact, they say it is a very pleasant way to die. Then, we get down below that to the man who is injured slightly, and he may take some time to be healed, but he can be healed.

Tagebucheintrag von Harry S. Truman am Tag der Ausfertigung des Einsatzbefehls, i.e. am 25.7.1945 in Potsdam, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Atomic_bombings_of_Hiroshima_and_Nagasaki bei Fn. 100

This weapon is to be used against Japan between now and August 10th. I have told the Sec. of War, Mr. Stimson, to use it so that military objectives and soldiers and sailors are the target and not women and children. Even if the Japs are savages, ruthless, merciless and fanatic, we as the leader of the world for the common welfare cannot drop that terrible bomb on the old capital [Kyoto] or the new [Tokyo]. He and I are in accord. The target will be a purely military one.

 

(2020/18) 25.7.2020
Süddeutsche Zeitung
Deutschlandjahr der Bundeswehr; Mike Szymanski „Freiwillige vor“ (Süddeutsche v. 24.7.2020)

Geschichte reimt sich bisweilen, sagt Mark Twain. Bei der deutschen Wiederbewaffnung i.J. 1955 ging es auch darum, die in Korea gebundenen Amerikaner bei der Standortbewachung in Deutschland zu entlasten. Und das gerade vorgeschlagenen Freiwilligenjahr könnte ebenso erleichtern, nämlich die nun ebenfalls „out of area“ engagierte Bundeswehr bei den eher niedrigschwelligen Aufgaben daheim, etwa beim Sichern kritischer Infrastruktur. Zudem könnte eine eher zivile Arbeitsplatzbeschreibung mehr bürgerliche Mitte für die Truppe anwärmen, ihr gleichzeitig einen Art zivilen Tarnfleck auf den Leib schneidern. Alles gut also?

Nein. Die entscheidende Lebenslüge wird damit nicht ausgeräumt: Robuste und nur vage definierte Militär-Aufgaben in aller Welt, die brauchen einen Vorrat robuster Typen und sie werden diese weiter anziehen. Darum wäre eine aufgabenkritische Herangehensweise, die die kaum noch zu ordnende Vielfalt der letzten 25 Einsatzjahre nach Erfolgen und Misserfolgen verliest und danach das Portfolio der Bundeswehr konsensfähig zurückschneidet, der nachhaltigere Ansatz. Nur beim Beschränken auf militärische Kernkompetenzen und auf das erfahrungsgemäß Machbare ließe sich auch das Problem endloser und letztlich orientierungsloser Beschaffungs-Runden lindern, wenn nicht sogar lösen. Neue personelle Ausstülpungen wie das Deutschlandjahr führen nicht erkennbar weiter.

 

(2020/17) 24.7.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Deutschlandjahr der Bundeswehr; Matthias Koch „Neues Verständnis vom Dienst“ u. Juliane Schultz „Bundeswehr sucht Freiwillige vor Ort“ (Ausgabe v. 24.7.2020, S. 4 u. 5)

Logisch ist die Initiative der Verteidigungsministerin schon: Wer wieder Bürgersöhne und -töchter für die Truppe anwärmen will, wer insbesondere ihre Eltern überzeugen will, der wird heute nur mit einer abgespeckten Aufgabe Erfolg haben. Die robusten, weltweiten und damit schlecht kalkulierbaren Aufgaben brauchten, suchten und fanden dagegen eher einen anderen Soldaten – den sehr robusten und bisweilen eben skandalträchtigen Typus.

Darum bleibt der aktuelle Vorstoß aber auch an der Oberfläche, sei er noch so gemeinschaftsbildend. Als Türöffner effizienter, auch demokratisch wirksamer wäre: Wir evaluieren die Einsätze der Bundeswehr der letzten 25 Jahre noch vor der Wahl offen nach Nutzen und Lasten, und dann taillieren wir das gesamte militärische Aufgabenportfolio nach Kräften. Eine Pflicht zum regelmäßigen Nachverfolgen von Einsatz-Zielen ist nicht einmal utopisch; sie fand sich sogar schon einmal in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 26.1.2016 gemäß der Drucksache 18/7360. Leider ist dieses lobenswerte Werkzeug dann aber versandet, sprich der Diskontinuität zum Opfer gefallen und bisher nicht wieder aufgegriffen worden.

Quelle zu Abs. 2 am Ende:
Drucksache: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/073/1807360.pdf
parl. Geschichte: http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/718/71871.html

Anm.: Auch das aktuelle Weißbuch v. 13.7.2016 erwähnt den Evaluationsansatz noch unter 4.1. (S. 57 oben), allerdings nur als vage Ankündigung, s. https://www.bmvg.de/resource/blob/13708/015be272f8c0098f1537a491676bfc31/weissbuch2016-barrierefrei-data.pdf

 

(2020/16) 11.7.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/07/17/9-juli-2020-ausgabe-29/
Debatte um KSK und Wehrpflicht; Leitartikel von Peter Dausend „Braucht keiner“ (DIE ZEIT No. 29 v. 9.7.2020, S. 1)

Völlig richtig: Wehrpflicht oder nicht, das kann bei den Elitesoldaten nichts unmittelbar ändern. Ganz allgemein aber gilt auf dem Beschäftigungsmarkt, an dem mit Wohl und Wehe auch die Bundeswehr teilnimmt: Die Arbeitsplatzbeschreibung definiert das Bewerberfeld. Wagemutige Aufgaben brauchen, suchen und finden einen robusten Bewerbertypus. 1993, als sich Einsätze „out of area“ abzeichneten, untersuchte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr den weltanschaulichen Querschnitt des künftigen Nachwuchses. Die Studie dazu warnte dann vor zunehmender Attraktivität „für junge Männer, die den demokratischen Zielen kaum oder gar nicht verbunden sind“, vor Bewerbern, die in die Bundeswehr drängen, um eine aus ihrer Sicht zu wenig autoritäre, zu „lasche“ Führung „zu ändern“. Alles dies „auch und gerade“ unter den potenziellen Freiwilligen und dies wäre bei einem „eventuellen Übergang zum Freiwilligensystem“ besonders im Auge zu behalten. Das Papier forderte vorsorglich auch die Dienstaufsicht auf, „Gruppen mit homogener Rechtsorientierung“ vorzubeugen. Der heutige Befund ist geeignet, die Prognose in weiten Teilen zu bestätigen.

Wir sollten zur bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik – auch insoweit Zustimmung zum Leitartikel – endlich die Sinnfrage stellen. Das führt übrigens auch zu versteckten trade-offs einer Dienstpflicht: Der wehrpflichtige grüne Offizier Winfried Nachtwei fordert seit langem eine systematische Evaluation der Auslandseinsätze. Diesen kritisch prüfenden Blick, den braucht jede Partei. Gerade wenn wir der Bundeswehr und ihrer inneren Führung nun ein betont rechtsstaatliches Rückgrat geben wollen. Am besten gleich eines nach Art. 19 GG, so wie es das BVerfG kürzlich zum BND klar gemacht hat.

Quellen:

(Zu Abs. 1 des Leserbriefs)

Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993: die Zitate stammen aus der Zusammenfassung unter 6.4 und 7. der Studie, daselbst S. 25ff; Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID

(Zu Abs. 2 am Ende; Hervorhebungen in den Urteilsgründen von mir)

BND-Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html

(Rn. 88) Art. 1 Abs. 3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich der Vorschrift nicht entnehmen. …

(91) Die Grundrechte binden die staatliche Gewalt vielmehr umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen, Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148 <150 f.>). Das Verständnis der staatlichen Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich nicht nur auf imperative Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse unterlegt sind. Alle Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen Entscheidungsebenen den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller Bürgerinnen und Bürger getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung erfasst. …

(94) In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen gilt. Entsprechend schließen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. In Anknüpfung an diese im Ansatz universalistische Einbindung des Grundrechtsschutzes trifft das Grundgesetz für die positivrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte im Einzelnen bewusst eine Unterscheidung zwischen Deutschenrechten und Menschenrechten. Das legt aber nicht nahe, auch die Menschenrechte auf innerstaatliche Sachverhalte oder auf staatliches Handeln im Inland zu begrenzen. Ein solches Verständnis findet auch im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Anhaltspunkt.

 

(2020/15) 5.7.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Debatte um KSK; Kommentar und Bericht von Daniela Vates in der Ausgabe v. 2.7.2020 („Den mythischen Ruf zerstört“ und „“Verteidigungsministerium rechnet mit dem KSK ab“, S. 4 u. 5)

Macht eine Bewährungsfrist für das KSK Sinn? Oder symptomatische Behandlung in Gestalt von mehr psychologischer Hilfe? Wohl nicht. Eine robuste Aufgabe sucht nun einmal armdick besaitete Bewerber. Und ein sehr vage beschriebener Arbeitsplatz – seit dem Streitkräfteurteil von 1994 ist der militärische Einsatzraum global und tatbestandlich offen – zieht einen nur schwer einschätzbaren, aber eher Risiko-affinen Personenkreis an.

Diese Tendenz war schon bei den ersten Schritten „out of area“ Anfang der Neunziger Jahre offenbar: 1993 veröffentlichte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr eine sorgfältige Studie zum weltanschaulichen Hintergrund damaliger Nachwuchs-Kohorten: „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern Ende 1992“. Zitat daraus: „Die Daten verweisen auf die Gefahr, dass die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Da faktisch eine Situation besteht, die auch für Wehrpflichtige (dies es damals ja noch waren) die Wahlfreiheit eröffnet, ist damit zu rechnen, dass auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potenzial in die Bundeswehr tragen werden.“ Es kam noch ärger: „Die Gruppendiskussion mit jungen Rechtsextremen hat gezeigt, dass diese sich von der Bundeswehr zwar angezogen fühlen, dass ihnen die Führung aber bei Weitem zu wenig autoritär, zu ‚lasch‘ erscheint. Sie wollen u.a. in die Bundeswehr, um dies zu ändern.

Wer eine solche Fehlentwicklung strukturell und nicht nur symptomatisch korrigieren will, der muss einen wieder für Bewerbungen aus der gesellschaftlichen Mitte gut einschätzbaren Arbeitsplatz beschreiben und fixieren, am konsequentesten durch ein Bundeswehraufgaben-Gesetz. Dazu müsste er konsensfähige, gemeinschaftsorientierte und mythenfreie bzw. "langweilige" Ziele wie die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff in den Mittelpunkt stellen und dürfte darüber hinaus gehende Einsätze nur unter restriktiv definierten Voraussetzungen zulassen. Dabei eingeschränkte Grundrechte müsste er gemäß Art. 19 GG klar benennen, wie noch im bemerkenswerten BND-Urteil aus dem Mai 2020 festgestellt. Er müsste allerdings auch aushalten, von Interesse-geleiteten robusten Typen wie Donald Trump als „Memme“ oder schlimmer beschimpft zu werden.

Quellen:

(zu Abs. 2 oben)
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993; die Zitate stammen aus der Zusammenfassung unter 6.4 der Studie, daselbst S. 25; Link/download: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID

(zu Abs. 3 oben)
BND-Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html

(Rn. 88) Art. 1 Abs. 3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich der Vorschrift nicht entnehmen.

(91) Die Grundrechte binden die staatliche Gewalt vielmehr umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen, Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148 <150 f.>). Das Verständnis der staatlichen Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich nicht nur auf imperative Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse unterlegt sind. Alle Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen Entscheidungsebenen den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller Bürgerinnen und Bürger getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung erfasst. …

(94) In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen gilt. Entsprechend schließen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. In Anknüpfung an diese im Ansatz universalistische Einbindung des Grundrechtsschutzes trifft das Grundgesetz für die positivrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte im Einzelnen bewusst eine Unterscheidung zwischen Deutschen- rechten und Menschenrechten. Das legt aber nicht nahe, auch die Menschenrechte auf innerstaatliche Sachverhalte oder auf staatliches Handeln im Inland zu begrenzen. Ein solches Verständnis findet auch im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Anhaltspunkt.

(110) Ein Verständnis der Grundrechte, das deren Geltung an den Staatsgrenzen enden ließe, stellte die Grundrechtsträger angesichts solcher Entwicklungen (Internationalisierung und Digitalisierung) schutzlos und ließe die Reichweite des Grundrechtsschutzes hinter die Bedingungen der Internationalisierung zurückfallen. …

(135) Das Zitiergebot (des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG) ist vielmehr gerade dann verletzt, wenn der Gesetzgeber ausgehend von einer bestimmten Auslegung des Schutzbereichs – wie hier der Annahme fehlender Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei im Ausland auf Ausländer wirkendem Handeln – die Grundrechte als nicht betroffen erachtet. Denn es fehlt dann am Bewusstsein des Gesetzgebers, zu Grundrechtseingriffen zu ermächtigen, und an dessen Willen, sich über deren Auswirkungen Rechenschaft abzulegen, was gerade Sinn des Zitiergebots ist (vgl. BVerfGE 85, 386< 404>; 113, 348 <366>; 129, 208 <236 f.>). Zudem entzieht sich der Gesetzgeber einer öffentlichen Debatte, in der Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen zu klären sind (vgl. BVerfGE 85, 386 <403 f.>; 129, 208 <236 f.>).

(Hervorhebungen von mir)

 

(2020/14) 4.7.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 9.7.2020
Debatte um KSK; Bericht und Kommentar von Peter Carstens „Psychologen für die Elitekämpfer“ und „In der Verantwortung“; Kommentar von Pascal Kober „Wir sind den Soldaten eine Antwort schuldig“ (Ausgabe v. 2.7.2020, S.2 u. 10)

Die Aufgabe definiert das Bewerberprofil. Das ist auch jenseits des Militärischen so und keine Verteidigungsministerin kann dies ändern. Gewagte Aufgaben produzieren nun einmal ein bevorzugt Abenteuer-affines Bewerberfeld. Wer einen Kampfauftrag zu erfüllen hat, wer in unübersichtlichen und lebensbedrohenden Situationen kurzfristig und kaltblütig existenzielle Entscheidungen zu fällen hat, der wird darin nicht einmal etwas Besonderes sehen.

Diese Erkenntnis ist weder neu noch ist sie fachfremd, sie ist auch jederzeit digital abrufbar. Anfang der Neunziger Jahre deuteten sich militärische Einsätze jenseits des Bündnisgebiet an; in diesem Zusammenhang kam eine Studie des damals noch in München beheimateten Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr heraus, das 2013 im nunmehrigen Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr mit Sitz in Potsdam aufgegangen ist: „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern Ende 1992“. Hier etwas Klartext aus der akkuraten und repräsentativen Befragung unter den für das Rekrutieren in Betracht kommenden Alterskohorten: „Die Daten verweisen auf die Gefahr, dass die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Da faktisch eine Situation besteht, die auch für Wehrpflichtige (die es damals ja noch waren) die Wahlfreiheit eröffnet, ist damit zu rechnen, dass auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potenzial in die Bundeswehr tragen werden.

Nach Aussetzen der Wehrpflicht kann dies nicht besser geworden sein, eher im Gegenteil. So richtig stockt der Atem aber bei einer direkt folgenden Erkenntnis: „Die Gruppendiskussion mit jungen Rechtsextremen hat gezeigt, dass diese sich von der Bundeswehr zwar angezogen fühlen, dass ihnen die Führung aber bei Weitem zu wenig autoritär, zu ‚lasch‘ erscheint. Sie wollen u.a. in die Bundeswehr, um dies zu ändern.

Kann man solcher innerer Gegebenheit durch regelmäßiges abstraktes öffentliches Würdigen begegnen, insbesondere durch Würdigungen der gefährlichen Arbeit von Elitesoldaten? Eher nicht, manche würden sich wohl sogar in ihrer Weltsicht falsch bestätigt fühlen. Wenn es mehr durchschnittliche Bürger und Bürgerinnen in den Streitkräften braucht, dann ist mehr Fluktuation, also eine Art Wärmetausch der Spezialkräfte sicher ein Beitrag. Aber strukturelle Änderungen und mehr qualifizierte Bewerbungen aus der Mitte der Gesellschaft sind erst wieder zu erwarten, wenn der Bundeswehrauftrag gesetzlich definiert und damit klar begrenzt ist – und nicht mehr volatil wie der Herbstnebel am Hindukusch.

Eine strukturelle Lösung wäre der Weg über Art. 19 GG, den das Verfassungsgericht zumindest für den Auslandsnachrichtendienst just gewiesen hat. Also ein für alle nachvollziehbares Bundeswehraufgabengesetz, das angestrebte Ziele und hinzunehmende Opfer ausweist. Allerdings wäre dies auch nicht mehr die Verantwortung einer Verteidigungsministerin; aber es würde dann auch die derzeit sehr offene und schwer zu administrierende innere Führung mit einem rechtsstaatlichen Rückgrat versehen. Und vielleicht kann man in einem Zug gleich evaluieren, welchen konkreten Erfolg und welche Lasten die unzähligen kritischen Einsatzsituationen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren denn gezeitigt haben - gerade auch zum psychischen und physischen Schaden der Spezialkräfte.

Zitierte Quelle:

Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993
Die Zitate in Abs. 2 u. 3 oben sind der Zusammenfassung unter 6.4 der Studie entnommen, daselbst S. 25.
Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID

 

(2020/13) 18.6.2020
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 30.6.2020
Etwaiger US-Truppenabzug (Daniel Brössler u. Matthias Kolb „US-Militärpolitik irritiert Verbündete“, Kurt Kister „Vereistes Verhältnis“, Matthias Kolb „Sehr viel zu erklären“ (Süddeutsche v. 17.6.2020, S. 1, 4 u. 8)

Völlig richtig: Um deutsche NATO-Mitgliedschaftsgebühren kann es hier nicht gehen, da sind wir nicht im Rückstand. Aber es ist auch nicht eine etwa unterfinanzierte gemeinsame Verteidigung – denn dass in die prägenden Aktivitäten der militärischen Partner der letzten 20 Jahren zu wenig Geld geflossen wäre, dass genau deshalb in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder in Syrien und auf dem Balkan so wenig nachhaltige Sicherheit herausgekommen ist, das behauptet derzeit wohl niemand. Auch nicht, dass diese Einsätze überhaupt Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff gewesen wären oder heute seien. Was soll das Manöver denn dann, was führen Leute wie Trump und Grenell im Schilde?

Am wahrscheinlichsten: Es ist schlichte Außenwirtschaftspolitik. Wir sehen das bullyhafte Einwerben von Ressourcen und Aufträgen für einen unersättlichen Organismus, den ein scheidender Präsident mit einschlägigen soldatischen Vorerfahrungen einmal als den "militärisch-industriellen Komplex" analysiert hat. Ein Wesen, das sich aus den tödlichsten Trieben und Ängsten ernährt und nach 1945 nie wirkliche Konversion erlebt hat. Vielleicht ist es auch hilfreich, sich daran zu erinnern: Das nämliche Argument, also: wir täten zu wenig für unsere Verteidigung, hatte bereits im Zuge des Korea-Krieges zur zeitweise undenkbaren deutschen Wiederbewaffnung und zum Beschaffen reichhaltiger Militaria geführt.

Quelle:

Zu Präsident Dwight D. Eisenhowers farewell address v. 17.1.1961 siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Eisenhower%27s_farewell_address
Auszug:
Now this conjunction of an immense military establishment and a large arms industry is new in the American experience. The total influence—economic, political, even spiritual—is felt in every city, every Statehouse, every office of the Federal government. We recognize the imperative need for this development. Yet, we must not fail to comprehend its grave implications. Our toil, resources, and livelihood are all involved. So is the very structure of our society.
In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist. We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge industrial and military machinery of defense with our peaceful methods and goals, so that security and liberty may prosper together. …

 

 

(2020/12) 16.6.2020
Frankfurter Allgemeine
Bundesverfassungsgericht zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Kommentar
„Grenzen der Aufklärung“ von Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen v. 20. 5.2020

Das war schon ein verblüffender Vorhalt aus dem Ausland: Wenn Deutschland weltweite Menschenrechte gelten lassen will – dann binden diese konsequent die deutsche Exekutive, immer und überall, selbst im Rahmen etablierter internationaler Kooperationen, mit dem Anspruch, zulässige Tatbestände abstrakt zu definieren und Eingriff und Nutzen im Einzelfall als verhältnismäßig abzuwägen.

Das BND-Urteil umzusetzen und dennoch Arbeitsraum zu lassen, das wird gerade wegen des parlamentarisch vorzuformenden Abwägens nicht trivial. Aber noch komplizierter kann es geraten, wenn wir die Entscheidung für andere Formen auswärtiger Gewalt weiterdenken, nämlich für militärische Einsätze: Wenn bereits das Telekommunikationsgeheimnis und die Pressefreiheit einen Schutz nach dem Standard des Artikel 19 verlangen – dann bedarf es schon einer sehr guten Erklärung dazu, warum der Gesetzesvorbehalt gerade nicht für das grundlegende Lebensrecht, also für das Höchstrecht gelten sollte. Konkret: Warum eine Abhöraktion in Lahore rechtsstaatlicher und demokratisch intensiver abgesichert und abgewogen sein sollte als das Anfordern von todbringenden Fliegerbomben am Kundus. Das Streitkräfte-Urteil hatte ja den Gesetzesvorbehalt i.J. 1994 für die Bundeswehr durch einen schlichten Parlamentsbeschluss ersetzt und dabei Artikel 19 – immerhin unsere konzentrierteste juristische Lehre aus der NS-Barbarei – mit keiner Silbe erwähnt.

Die beiden Fallgestaltungen – militärischer und nachrichtendienstlicher Eingriff – ähneln sich aber hinsichtlich der internationalen Kooperationsdichte und tatsächlich können diese sich arbeitsteilig ergänzenden Tätigkeitsfelder sogar verschwimmen. Etwa bei der Zielaufklärung oder bei der heute fast vergessenen „Operation Sommerregen“, als der BND ab Mitte der Achtziger Jahre in Afghanistan sowjetische Waffensysteme gesucht und geborgen hatte, unter aktiver Beteiligung von deutschen Soldaten und – mit Leib und Seele Nachrichtendienst – unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe. Vielleicht tragen nun ja auch die inzwischen nachdenklichen Bemerkungen aus der Türkei-Entscheidung des Zweiten Senats v. 7.5.2008 weitere Früchte – wonach dem Einsatz bewaffneter Gewalt ein besonderes Eskalations- und Verstrickungsrisiko immanent ist, wonach Menschenrechte in Gefahr geraten und gerade die exekutive Dynamik von Bündnissystemen eine vorbeugend starke Rolle des Parlaments erfordert. Insbesondere, so meine ich, wenn wir im Ausland widerspruchsfrei die Menschenrechte im Schilde führen wollen.

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Sommerregen_(Bundesnachrichtendienst)

BND-Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 -
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html

Türkei-Urteil des Zweiten Senats vom 7. Mai 2008 - 2 BvE 1/03 -
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/05/es20080507_2bve000103.html

Streitkräfte-Urteil des Zweiten Senats vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 -
https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html

 

(2020/11) 15.6.2020
Das Parlament, abgedruckt 20.7.2020
Bundesverfassungsgericht zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Artikel „Zank um die Kontrolle“ (Ausgabe Nr. 23-25/2020 v. 2.6.2020)

Die Folgen der aktuellen Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sind ggf. komplexer als die Fragen eines „Wie?“ und „Durch wen?“ künftiger Kontrolle. Denn zum ersten Mal ist hier klar erkannt: Exekutives Handeln unterliegt auch im Ausland den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen des Art. 19 GG. Genauer: Grundrechtseingriffe sind auch insoweit vorab zu normieren, dabei ist jedes inkriminierte Grundrecht klar auszuweisen.

Nun – wenn diese Garantie für das Telekommunikationsgeheimnis und für die Pressefreiheit zutrifft, dann sollte sie „a fortiori“, also nur umso mehr für einen existenziellen, alle anderen Rechte erst ermöglichenden Status wie für das Lebensrecht gelten. Auswärtige Gewalt müsste dann insgesamt in dieser Qualität eingehegt sein, damit gerade auch die potenziell irreversibel einschneidende militärische Gewalt. Zumindest aber bräuchte es eine klarstellende Interpretation, die das Streitkräfte-Urteil von 1994 – das Art. 19 GG nicht einmal erwähnt – und das Aufklärungs-Urteil von 2020 untereinander kompatibel gestalten müsste.

Quelle:
Aktuelle Entscheidung unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html; das folgenreiche Streitkräfte-Urteil d. Jahres 1994 ist bis heute nur auf einem Schweizer Server dokumentiert, s. https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html; siehe immerhin die einschlägige Pressemitteilung unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1994/bvg94-029.html

 

(2020/10) 16.3.2020
Süddeutsche
Corona; Detlef Essinger „Solidarität wie nie“ (Ausgabe v. 14./15.3.2020, S. 4)

Man dächte es so gerne: Am Dienstag nach Corona trinken wir wieder einen Cappuccino beim kleinen Italiener an der Ecke. Den Cappuccino mag es noch geben, den kleinen Italiener kaum noch. Vielleicht Starbucks. Oder etwas Drive-In-Artiges. Wenn wir nicht aufpassen, werden sich unsere Verteilstrukturen nun noch viel schneller in Richtung derjenigen Marktplätze und Informationsbörsen wandeln, die das Netz dominieren. Denn in den kommenden Monaten werden What's App, Amazon & Co. besonders praktisch, um das Leben in isolierten kleinen und kleinsten Zellen zu organisieren. Steriler und damit seuchenhygienisch effizienter als jede Solidarität in Familien, unter Nachbarn, in sozialen Gruppen.

Es wäre nun besonders dringend, öffentlich garantierte und verantwortete Marktplätze und Informationsbörsen bereitzustellen, gleichzeitig auch einen gesamtgesellschaftlichen Schutz vor Ausforschung und Manipulation durch partikuläre Interessen. Selbstverständlich ist unabhängig davon erforderlich, solidarisch die ökonomischen Folgen des brachialen Nachfrageeinbruchs zu tragen, auch für den kleinen Italiener. Wenn wir denn unsere Welt in einem Jahr noch wiedererkennen wollen.

 

(2020/09) 14.3.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/03/20/12-maerz-ausgabe-12/
Corona; Bernd Ulrich „So nah ist zu nah“ (DIE ZEIT No. 12 v. 12.3.2020, S. 3)

Wenn die cellula plötzlich der sicherste Ort wird, wenn wieder Vielfalt durch Abstand garantiert werden muss, dann produzieren Plattformen wie What’s App oder Amazon einen irritierenden Widerspruch: Sie sind selbst ein Produkt, Teil und Treiber von Digitalisierung und Globalisierung – und sie werden nun besonders praktisch zur Organisation kleiner und kleinster Einheiten. Ein Horror wäre, wenn sie dann auch zur verdeckten Kontrolle und sogar Steuerung fungierten. Darum werden öffentlich und gesamtgesellschaftlich aufgezogene Marktplätze und Informationsbörsen jetzt noch viel wichtiger werden.

Die ersten Worte, die ich als Geheimschutzbeauftragter buchstabieren lernte, waren „need to know“ gleich „Kenntnis nur, wenn nötig“. In Zeiten von „need to meet“ oder: „persönliches Treffen nur, wenn risikofrei“ wird der erstgenannte Grundsatz für das Sammeln, Anhäufen und Verarbeiten von Daten nur umso wichtiger.

 

(2020/08) 8.3.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.3.2020
Nachhaltigkeit; Interview von Thorsten Breitkopf mit Ernst Ulrich v. Weizsäcker „Es geht auch ohne Kohle“ (Ausgabe v. 7./8.3.2020, S. 10)

Danke für das frische und sehr inspirierende Interview in der Ausgabe v. 7./8.3.2020! Ein wenig weitergehend als Herr von Weizsäcker würden mich nicht nur Faktor- bzw. Effizienz-Gewinne locken, sondern durchaus auch lustvolles Einsparungspotenzial bei überlegtem Ändern der Lebensgewohnheiten, speziell durch gezieltes Verzichten, Reduzieren oder Umsteigen; weniger kann auch viel mehr sein. Weiter aber: Sehr richtig und wichtig erscheint mir Wasserstoff als Energieträger der Zukunft und ein entschleunigter Konsum, gerade durch merkliches Ausdehnen der Nutzung unserer Geräte. Beispiel: Sich ein Fahrzeug mit mindestens 25 Jahren Lebensdauer vorzustellen und mit mehreren nacheinander einbaufähigen Antriebskonzepten – das mag ja zunächst eine emotionale Herausforderung für den heutigen Verbraucher sein, nicht aber für einen motivierten Ingenieur.

Ich hätte übrigens auch keine Angst vor Wasserstoff. Wer Energie für 600 km oder mehr tankt, der transportiert nun mal eine respektable Brandlast, gleich ob als Benzin, Gas, Amperestunden oder Wasserstoff, und erfahrungsgemäß kann man damit umgehen lernen.

 

(2020/07) 22.2.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/02/28/20-februar-ausgabe-9/
Münchner Sicherheitskonferenz; Josef Joffes Leitartikel „Macht Politik“ (Die Zeit No. 9 v. 20.2.2020, S. 1)

Ein sehr irritierender Dreiklang: Auschwitz, Dresden, München. Gräuel, Grauen, Sicherheit? München steht wohl eher für neue Unsicherheit, für das Verlernen lebenswichtiger Lektionen.

Ich bin stolz darauf, wenn die Mehrheit der Deutschen den Krieg in Afghanistan ablehnt, den monotonen Münchner Appellen zum Trotz. Vermutlich verbinden Bürger die bestialische Feuerhölle von Kunduz auch einfühlsamer mit der von Dresden, als es Regierungen, Parlamente, Gerichte und Präsidenten je könnten. Kunduz war für mehr als 100 Afghanen vom Kind bis zum Greis keine Drohung, sondern grauenhafteste Realität.

 

(2020/06) 18.2.2020
Süddeutsche Zeitung
Münchner Sicherheitskonferenz; Daniel Brösslers Kommentar „Den Westen retten“ (Süddeutsche v. 17.2.2020, S. 4)

Selbstverständlich hat der Westen ein hochwertiges Selbstbild. So wie eben andere Weltgegenden auch. Aber nehmen wir einen aufgeklärten Zeitzeugen, sagen wir aus der Mitte Afrikas. Er kennt Namen wie Cpt. Truman Smith, Gen. Groves, Papa Doc Duvalier, Batista, Somoza, Reza Pahlewi, Saddam Hussein, Mossadegh, Allende und Bishop, er weiß um Begriffe wie „decapitating“, „covert ops“, "fracking" oder „climate adaptation“; er hat Eisenhowers „farewell address“ im Sinn und den Dokumentarfilm „The Fog of War“.

So aufgeklärt dächte unser Beobachter ganz sicher nicht an ein barmherziges, selbstloses und friedliches westliches Wesen. Er hätte auch keine Angst vor mehr "westlessness" – er dächte einfach an eine Historie von „recklessness“.

 

(2020/05) 13.2.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 4.3.2020
Integriertes Entwicklungs- und Handlungskonzept für Burscheid; Bericht von Jan Sting zur Rampe/Kanzel am Radweg („Für die Rampe wird gerodet“, Lokal-Ausgabe Rhein-Wupper v. 11.2.2020, S. 28)

Der Mehrwert der Rampe zur Hauptstraße bleibt im Nebel. Seit der Planung mit Stand Dezember 2016 haben Steigung & Gefälle leider um ein sattes Drittel auf nun nicht mehr barrierefreie 8% zugenommen - sehr schlecht u.a. für Kinderwagen, Rollstühle und Fahrräder mit Muskelkraft. Und auch die von den Planern seinerzeit angepriesene Magnetwirkung der Kanzel fällt bis auf Weiteres flach. Denn trotz beharrlichster Suche hat sich ja niemand gefunden, der die Kanzel mal „bespielen“ oder dort ein Stückchen Stadtmitte für den Radweg „inszenieren“ könnte.

Nun muss man sich eines klarmachen: Die angejahrten Blechbäume an der evangelischen Kirche, die werden irgendwann vergehen. Aber das Ende der Kanzel und ihrer beeindruckenden Pylone, das würde kein derzeit lebender Burscheider mehr sehen. Vielleicht kann man jedenfalls die 300.000€ für die Kanzel in besser sichtbare, sicherere und nachhaltigere Innovationen umsetzen, etwa in eine Beleuchtung der Balkantrasse zumindest zwischen Bad und Bahnhof.

 

(2020/04) 12.2.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 17.2.2020
Thüringer Wahl; Leitartikel von Berthold Kohler „Die Sekundärexplosion“ (F.A.Z. v. 11.2.2020, S. 1)

Mehr noch als an eine Sekundärexplosion erinnern mich die Erfurter Chaos-Tage an den klassischen Schuss ins eigene Knie, und dies gleich mehrfach. Die thüringische CDU – und ebenso die FDP – war offenbar so sehr von Kopfjäger-Instinkten beherrscht, dass voraussehbare eigene und gewichtigere collateral damages völlig außer Kalkulation blieben.

Was nun? Brächte ein weiteres erregtes Debattieren von Personalien denn vor Ort wirklich weiter? Vermutlich liegt das Problem doch eher in einer Stimmung bei signifikanten Anteilen der Wählerschaft, bei der Wiedervereinigung irgendwie zweitklassig, kolonisiert, manipuliert und nicht respektiert herausgekommen zu sein – ein Gefühl, das die AfD immer genüsslicher ausbeutet, verstärkt und mit Ängsten und Feindbildern garniert. Warum den Wählern nun nicht ein Angebot machen, das die AfD so eben nicht machen kann oder will – das gute alte Verfassungsprojekt? Beim Einigungsvertrag ist eine Hausaufgabe aus der früheren Präambel bequemerweise unter die Schreibunterlage geschoben worden: Im Zuge der Wiedervereinigung sollten eigentlich alle Deutschen das ja ausdrücklich nur „für eine Übergangszeit“ geschriebene Grundgesetz durch eine finale und gemeinsame Verfassung ersetzen.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung sind nun genügend Erfahrungen zusammenzutragen, um die geschriebenen und die ungeschriebenen Grundsätze unserer Verfassung – etwa auch beim Ausüben auswärtiger Gewalt – offen zu debattieren und nach Erkenntnisstand sauber zu regeln. Ein solcher Prozess würde den Bürgern aller Bundesländer einigenden und befriedigenden Respekt erweisen und würde über noch so gewichtige Personalien weit hinausweisen.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Präambel_des_Grundgesetzes_für_die_Bundesrepublik_Deutschland

 

(2020/03) 10.2.2020
DER SPIEGEL
Thüringer Wahl; Beiträge zum Spiegel-Titel Nr. 7/2020 v. 8.2.2020 „Der Dämokrat“, insbesondere Dirk Kurbjuweits Leitartikel „Die Naiven und die Ruchlosen“

Irre, wie leichtfüßig ein Lindner aus dem Chaos ausscheren kann! Und gleich noch eine Salve gegen den laut Umfrage breit respektierten Alt-Ministerpräsidenten abfeuert. Als neuen FDP-Wahl-Slogan empfehle ich: „Link und rechts zugleich – die Mitte aller Mitten“. Dafür beanspruche ich auch kein Copyright.

 

(2020/02) 30.1.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Chinesische Rüstung; Bericht v. Steffen Trumpf „China ist zweitgrößter Waffenproduzent“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 27.1.2020, s. 6)

Der Bericht erwähnt: Ganz besonders seit 1999 habe China große Summen in die Modernisierung seiner Rüstungsindustrie gesteckt. Das hatte auch eine historisch präzise nachverfolgbare Ursache: Am 7. Mai 1999 hatte die NATO im Rahmen der Operation Allied Forces / OAF kurz vor Mitternacht Belgrad bombardiert, um die serbische Staatsführung zum Einlenken zu bewegen. Dabei hatten fünf Lenkbomben die chinesische Botschaft getroffen; drei chinesische Journalisten waren ums Leben gekommen, mehrere weitere schwer verletzt. China hat sogleich im folgenden November eine neue Militärdoktrin aufgelegt; in diesem Zuge wuchsen die militärischen Investitionen signifikant an.

Es ist halt so: Mehr Waffen schaffen jedenfalls eines mit Sicherheit – mehr Waffen. Die moderne chinesische Rüstung zählt zu den gewichtigsten „collateral damages“ der frühen out-of-area-Missionen, ist halt auch eine Frucht der nach 1990 zunehmend raumgreifenden und robusten Außen- und Sicherheitspolitik des Westens. Unsere Rüstungsindustrie wird das nicht stören, ganz im Gegenteil.

Quelle u.a.:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bombardierung_der_chinesischen_Botschaft_in_Belgrad

 

(2020/01)
Süddeutsche Zeitung
Auschwitz; Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid „Gegen die Legenden“ (Süddeutsche v. 27.1.2020, S. 4)

„Nie wieder Auschwitz!“, das ist eine hochberechtigte, dabei aber vergleichsweise risikolose Parole. Keine, die eigenes Handeln zu sehr hinterfragt. Denn Auschwitz, das waren ja ganz andere, zu einer völlig anderen Zeit, irgendwo im Nichts. Eine auch nur annähernd bestialische, offizielle wie integrale Inhumanität, die wird kein Zeitgenosse erwarten. Und selbst diejenigen, bei denen man klammheimliche Gesinnungsgemeinschaft mit damaligen Tätern annimmt oder annehmen muss, das sind ja typischerweise die anderen.

Mehr Mut, mehr Identifikation und mehr Reflektion würde heute ein Ruf wie „Nie wieder Kunduz!“ verlangen: Kunduz mit einer mutwilligen Flammenhölle am 4.9.2009 für mehr als hundert Afghanen vom Kind bis zum Greis. Oder „Nie wieder Varvarin!“: Varvarin, wo Jagdflugzeuge am 30.5.1999 einen serbischen Schulbus in Brand schossen. Oder gar „Nie wieder Belet Huen!“: Soweit bekannt, verzeichnete die Bundeswehr hier am 22.1.1994 den ersten menschlichen „collateral damage“. Lagerwachen hatten des Nachts versehentlich einen jungen Somali namens Farah Abdullah erschossen; die Tat wurde später mit dem archaischen Blutgeld bereinigt.

Die Zahl der zivilen Opfer bei Konflikten, an denen sich Deutschland nach 1990 beteiligte, erreicht oder übersteigt heute selbst bei einer konservativen Schätzung die 50.000. Der richtige, zukunftsweisende Ruf wäre daher nach meinem Gefühl, wenn denn ernst gemeint: „Nie wieder Krieg!“

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

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